»Paradox Europa«

von Andreas Speit
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 207 - März | April 2024

antifa Magazi der rechte rand
Polen errichtete 2021 eine »Rote Sperrzone« an der Grenze zu Weissrussland, die niemand mehr betreten durfte, also auch keine Journalist*innen. So wurde von einem europäischen Land das Recht auf Asyl verhindert, Menschenrechte eingeschränkt und die sogenannte Vierte Gewalt, also Presse und Medien, ausgesperrt. © Mark Mühlhaus / attenzione

Sie tritt wieder an. Am 9. Juni kandidiert Ursula von der Leyen für die Europäische Volkspartei (EVP) zur Europawahl. In Bukarest bestimmten die Delegierten die amtierende EU-Kommissionspräsidentin zu ihrer Spitzenkandidatin. Das Ziel: Die CDU-Politikerin und Präsidentin der EU-Kommission soll ein zweites Mal amtieren. Sie könnte somit noch einmal zu einer der wichtigsten Politikerinnen in Europa werden. Doch die Bedeutung der Wahl für alle europäischen Länder scheint in der allgemeinen Diskussion kaum relevant zu sein. Brüssel und Straßburg sind weit weg, wenn Entscheidungen fallen, und doch so nahe, wenn die Auswirkungen folgen. Eine Diskrepanz, die sich sowohl durch mangelnde Transparenz als auch offensichtliche Lobbyeinflüsse verstärkt. Von der Leyen wird schon jetzt nicht zugetraut, eine weitere Demokratisierung der europäischen Demokratie anzuschieben.


Dieses Dilemma ist nur eines von vielen Akzeptanzproblemen der Europäischen Union. Sie alle stärken die zahlreichen Anti-Europäer*innen. In ihrer Bewerbungsrede führte von der Leyen auf dem Parteikongress am 7. März aus, die Kriege in der Ukraine und in Gaza sowie der Aufstieg Chinas seien die zentralen Herausforderungen für die 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Sie richtete den Blick auch nach innen: »Und hier zu Hause versuchen die Freunde von Putin, unsere Geschichte umzuschreiben und unsere Zukunft zu kapern.« Diesen Anhänger*innen des russischen Präsidenten Wladimir Putin wolle sie entschieden entgegentreten. Sie werde sich für mehr finanzielle und militärische Hilfe für die Ukraine im Kampf gegen Russland einsetzen. Und die Spitzenkandidatin betonte: »Es darf keinen Zweifel daran geben, was bei dieser Wahl auf dem Spiel steht.« Einen Wandel für eine sozial-ökonomische Transformation sowie für eine humane Migrationspolitik versprach sie freilich nicht. Von der Leyen versicherte vielmehr, die EU-Wirtschaft voranzubringen, gegen irreguläre Einwanderung vorzugehen, die Unternehmen zu stärken sowie die Landwirte zu hofieren. Dass die Unternehmen und die Landwirtschaft durch einen »Green Deal« eine ökologische Nachhaltigkeit – unterstützt durch die EU – anstreben sollten, ließ sie jedoch unerwähnt. Schon lange wird das Vorhaben, mit dem die EU bis 2050 klimaneutral gemacht werden soll, dazu genutzt, um von der Leyen als zu grün anzufeinden.


In dem rund 23-seitigen Manifest zur Wahl, »Unser Europa, eine sichere und gute Heimat für die Menschen«, hebt die EVP jetzt auch hervor, der »Green Deal« dürfe die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen nicht einschränken und die Landwirtschaft nicht gefährden. Der Protest aus der Landwirtschaft in vielen europäischen Ländern zeigt Wirkung; Konservative stimmten bereits mehrmals gegen Gesetzesvorlagen der EU-Kommission. Mangels Unterstützung sah sich von der Leyen daher genötigt, Vorschläge für weniger Pestizide zurückzuziehen.
Die EVP dürfte nach Meinungsumfragen trotz des Aufstiegs extrem rechter Parteien in den EU-Staaten einen klaren Vorsprung vor den anderen Fraktionen erzielen. Sie könnte 176 Mandate erringen, die »Identität und Demokratie«-Fraktion 85 Mandate. Ein Grund zur Beruhigung? Nein, denn der Einfluss der Anti-Europäer*innen wie der AfD oder des »Rassemblement National« wirkt längst. Dieser Einfluss bremst nicht nur den gebotenen sozial-ökologischen Wandel aus, wo nicht nur die radikalen Anti-Europäer*innen eine »Ökodiktatur« kommen sehen. Er verschärft ebenso die Migrationspolitik. Im Manifest erklärt die EVP, die EU müsse wieder die »Kontrolle über die Migration« erhalten, da im vergangenen Jahr mehr als eine Million Asylanträge in den 27 EU-Ländern, in Norwegen und in der Schweiz gezählt wurden. Die vermeintliche Lösung der EVP: Drittstaaten sollen Antragsstellenden künftig »Schutz vor Ort« bieten. Die Ursachen von Flucht und Vertreibung, die auch die EU mit ihrer Politik von Marktprotektionismus bis Subventionen auslöst, wird letztlich ignoriert. Nicht minder, dass der Klimawandel auch weiterhin zu neuen Fluchtbewegungen führen dürfte. Die Antwort der EU: Verschärfung der Gesetze, starke Zäune und Beschränkung der Seenotrettung. Die Festung Europa steht und soll noch fester werden. Diese Politik läuft den von Ursula von der Leyen erwähnten europäischen Werten zuwider – in jeder Minute, in jeder Stunde.

ABO
Das Antifa Magazin

alle zwei Monate
nach Hause
oder ins Büro.


2012 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis als Anerkennung für viele Jahrzehnte Frieden, Versöhnung und Demokratie.« Bereits damals kam Kritik an der Auszeichnung auf. Unter anderem wurde auf einen Eurozentrismus hingewiesen, der nicht nur die Kolonialgeschichte, sondern auch die Gegenwart relativiere. 2024 ist von Versöhnung mit den angrenzenden Nicht-EU-Staaten bei der Asylpolitik wenig zu erleben. Dreckige Deals werden für die Abschottung ausgehandelt. Der EU-Staat Ungarn unter Viktor Orbán kann so Anti-EU-Politik betreiben. In den Grenzen der EU sind gesellschaftliche Minderheiten – LGBTQ sowie Sinti*zze und Rom*nja – auch weiterhin gefährdet und werden verstärkt angefeindet. Über das Selbstbestimmungsrecht von Frauen wird weiter gestritten. Das EU-Gesetz zum Schutz von Frauen ist jüngst daran gescheitert, einheitliche Standards für den Straftatbestand Vergewaltigung zu erreichen. Diese Passage blockierte aus Deutschland Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP). Seit dem Terroranschlag der Hamas und der Reaktion der Regierung Israels darauf sind jüdische Menschen massiven Anfeindungen ausgesetzt. Und gegen Menschen islamischen Glaubens muss das Abendland verteidigt werden.
Die Kritik wegen all der politischen Mankos mit ihren verheerenden Konsequenzen sollte aber zu keiner fundamentalen Kritik an dem erkämpften Wertekanon in der Europäischen Union führen. Im Gegenteil: An der Charta der Grundrechte – Würde des Menschen, Freiheit, Demokratie, Gleichstellung, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte – sollte die reale Politik gemessen und hinterfragt werden. Aus diesen sechs Werten ergeben sich die weitreichenden Forderungen für mehr Demokratie, Emanzipation, Humanität, Diversität, Frieden und soziale Sicherheit.


Auf das Paradox in Europa hat Ágnes Heller stets verwiesen. Die ungarische Philosophin, 2019 verstorben, hob in »Paradox Europa« hervor, der »erste Nationalstaat, ‹Frankreich›«, sei auch »Träger des Versprechens der Aufklärung. Die erste Verfassung war für ‹Menschen› und ‹Bürger›. Die universelle Identität (Menschenrechte) wurde mit anderen (Staatsbürgerrechten) verbunden.« Kurz: Die anfänglichen Versprechen wurden selbst erst nach und nach durch Kämpfe verwirklicht – wie das Wahlrecht von Frauen – und bis heute wurden nicht alle eingelöst.


In dem Essay von 2019 legt Heller zudem dar, dass der Sieg des Nationalismus 1914 kam – »gegen den Internationalismus der Arbeiterklasse und den Kosmopolitismus der Bourgeoisie«. Die »Erbsünde Europas war das hässliche Kind des Nationalismus«. Seitdem seien das »Europa des nationalistischen Fanatismus und das Europa des humanistischen Universalismus (…) dasselbe: Europa als Verkörperung eines Paradoxes«, so Heller. Ein Nationalismus, der zu Weltkriegen, Faschismus und Auschwitz führte.
In Zeiten des Fundamentalangriffs jener Kräfte sind die Kräfte des humanistischen Universalismus zu sammeln. Das »Paradox Europa« gilt es mit den Utopien eines Europas zu verteidigen. Heller nennt einen Etappensieg: die liberale Demokratie, auch weil liberale Staaten in Europa noch nie gegeneinander Krieg geführt haben. Das autoritäre Russland liefere den Beweis, mit dem Mittel des Kriegs wieder Politik umzusetzen. Diese Liberalität – mit seinen Innen- und Außengrenzen – greifen die Anti-Europäer*innen mit unterschiedlichen Argumentationen an. »Deren Kulturrevolution soll mit einer neuen Kulturrevolution unter umgekehrten Vorzeichen revidiert werden«, warnt Claus Leggewie. Der Politikwissenschaftler schrieb 2016 in »Anti-Europäer – Breivik, Dugin, al-Suri & Co.«, wenn diese europafeindlichen Kräfte, zu denen er auch Putin zählt, erfolgreich würden, entstehe ein »radikal anderes, autoritäres, fundamentalistisches Europa – statt kulturellem Pluralismus weiße Suprematie, (…) statt Demokratie Autokratie, statt Gleichberechtigung Patriarchat, statt Individualität Unterwerfung«. Diese Gefahr droht real, auch weil das konservative Milieu seinen eigenen Werten nicht immer treu bleibt.