»Jede Zeit hat ihren eigenen Faschismus«

von Volkmar Wölk
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 208 - Mai | Juni 2024

Antifa Magazin der rechte rand

»Ogni tempo ha il suo fascismo«, schrieb der italienische Holocaust-Überlebende Primo Levi am 8. Mai 1974 in der Tageszeitung Corriere della sera. Jede Zeit habe ihren eigenen, spezifischen Faschismus. Er wies mit diesem Satz darauf hin, dass dieser erstens keine Angelegenheit der Vergangenheit sei. Und zweitens machte er darauf aufmerksam, dass der Faschismus der Vergangenheit keineswegs ein identisches Erscheinungsbild wie der des untergegangenen Regimes haben müsse. Knapp 30 Jahre waren damals seitdem vergangen und noch immer hatten viele Historiker*innen und Politikwissenschaftler*innen das nicht verinnerlicht.


Die Vorzeichen des Faschismus, so Primo Levi, seien bereits dort erkennbar, »wo die Machtkonzentration dem Bürger die Möglichkeit und die Fähigkeit nimmt, seinen Willen zu äußern und umzusetzen«. Das müsse keineswegs »mit dem Terror der polizeilichen Einschüchterung« geschehen, sondern »die Verweigerung oder Verfälschung von Informationen«. Schule, Justiz und die ideologischen Staatsapparate seien weitere Mittel, derer sich dieser neue, veränderte Faschismus in der Demokratie bedienen könne. Im Italien des Jahres 1974 hatte der neofaschistische »Movimento Sociale Italiano« (»Italienische Sozialbewegung«, MSI) gerade mit der Mehrheit der Partei der Monarchisten fusioniert. Fast gleichzeitig entstanden aus dem Jugendverband des MSI heraus in Italien die Anfänge einer »Neuen« Rechten. Beides geschah aus dem Bestreben heraus, das Negativbild des Faschismus abzulegen und respektabler zu erscheinen – keine freiwillige Veränderung, sondern eine erzwungene. Die zahlreichen Morde, Anschläge und Attentate durch Neofaschisten in der Zeit nach 1968/69 hatten die erstrebte bürgerliche Fassade erschüttert und drohten, sie zum Einsturz zu bringen. »Jede Zeit hat ihren eigenen Faschismus.« Und zuweilen hat dieser mehrere Gesichter gleichzeitig.

Wie alles begann
Als im Mai 1989 die erste Ausgabe der Zeitschrift der rechte rand erschien, damals noch mit dem Untertitel »Informationen von und für AntifaschistInnen in Niedersachsen«, hieß es im Editorial: »Die Wahlerfolge am rechten Rand zeigen: Es ist dem Neofaschismus in einem qualitativ neuen Ausmaß gelungen, Massenstimmungen für sich zu organisieren. Ausländerfeindlichkeit und Asylantenhetze haben durch CDU-Politik Schubkraft bekommen und die wahlpolitische Landschaft am rechten Rand aufgelockert. Soziale Ausgrenzung, gesellschaftliche Ablehnung und Isoliertheit, politische Orientierungslosigkeit sowie ideologische und psychologische Prägung in dieser Gesellschaft tragen zur Herausbildung des sich täglich reproduzierenden Potentials neofaschistischer Gruppierungen bei. Dieses Potential ist mobilisierungsfähig in mehrfacher Hinsicht. Als Gewaltreserve gegen Linke und Minderheiten. Als Wählerreservoir. Als gesellschaftlicher Stimmungserzeuger.« Manches davon würden wir heute sicherlich anders formulieren. Die Grundaussagen jedoch treffen – leider – gegenwärtig ebenso zu wie damals. In dieser ersten Ausgabe bilanzierte ein gewisser Jürgen Trittin nach dem Wahlerfolg der »DVU-Liste D« bei der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft, dem Einzug der Partei »Die Republikaner« in das Berliner Abgeordnetenhaus und der NPD in Fraktionsstärke in den Frankfurter Römer: »Hieraus folgt für eine antifaschistische Politik, dass sie sich nicht darauf beschränken darf, faschistische Gruppen verbieten zu wollen. Wenn die Ursache für die Offenbarung des faschistoiden Lagers in der (…) Kombination ideologischer Motive wie wirtschaftlicher Entwicklungen zu suchen ist, dann ist es notwendig, genau dies zu thematisieren und dabei deutlich zu machen, dass die angegebenen Lösungsmöglichkeiten nur vorgebliche sind.«
Die DVU existiert schon lange Jahre nicht mehr, den »Republikanern« ist ihr Parteistatus aberkannt worden, die NPD hat sich als Versuch, ihrer chronischen Erfolglosigkeit zu entfliehen, in »Heimat« umbenannt. Noch nicht einmal in der rechte rand taucht sie mit mehr als einer Randnotiz auf. Hauptthema auf den damals 16 Seiten der Zeitschrift war das Erstarken der »Republikaner« als Wahlpartei der extremen Rechten; weitere Schwerpunkte waren die militante Neonaziszene und das Ausfransen der Unionsparteien nach rechts. Letzteres hat – innen- und außenpolitisch – nicht an Aktualität verloren: Sei es das Abstimmungsverhalten von CDU und FDP im Thüringer Landtag, das Übernehmen von vermeintlichen Erfolgsrezepten rechter Politiker wie Donald Trump oder Viktor Orbán oder – auf europäischer Ebene – die Annäherung von Manfred Weber (CSU) und Ursula von der Leyen (CDU) an Rechtsradikale wie die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni.

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Bereits in der folgenden Ausgabe erschien der erste Beitrag über die »Neue Rechte«. Genau jene neuen Erscheinungen aufzuzeigen und zu analysieren, inzwischen nicht nur über Landes-, sondern Ländergrenzen hinweg, ist ein Markenzeichen von der rechte rand geblieben. Es geht uns seit damals vor allem darum, die Entwicklungen in den Bewegungen der extremen Rechten und ihrer Ideologie aufzuzeigen, getreu der Forderung eines anderen italienischen Antifaschisten, Angelo Tasca: »Den Faschismus definieren, heißt für uns vor allem, seine Geschichte schreiben.« Jede Form des Faschismus enthalte »vielfältige und manchmal sich widersprechende Tendenzen, die sich entwickeln und sogar einige ihrer Grundzüge ändern können.« Es gelte, den Faschismus »in dieser Bewegung zu fassen«. Genau das ist ein Grundanliegen dieser Zeitschrift in den 35 Jahren ihres Bestehens und wird es selbstverständlich bleiben.
Als Margret Feit zu Beginn der Geschichte von der rechte rand über die »Neue Rechte« schrieb, war sie eine der ersten in der Bundesrepublik, die sich mit dieser Strömung befasste. Viele der Gruppen, die sie damals beschrieb, existieren längst nicht mehr, andere entstanden erst viele Jahre später. Die »Junge Freiheit«, die sich damals als »konservativ-revolutionär« verstand, war noch ein Monatsblättchen. Das »Institut für Staatspolitik« entstand erst viele Jahre später. Aber Feit legte die Grundlagen für deren Analyse.

Dauerbrenner »Identität«
Als am 6. April 2024 im »Haus der Chemie« in Paris das jährliche Kolloquium der französischen »Neuen Rechten« stattfand, war dies eine Fortsetzung der langen Reihe zentraler Veranstaltungen, die auch schon 1989 durchgeführt wurden. Damals war das Rahmenthema »Untergang der Blöcke, Morgenröte der Völker«. Neben dem unvermeidlichen Alain de Benoist sprachen der Italiener Marco Tarchi, der Brite Michael Walker, der Kroate Hrvoje Lorkovic und der Belgier Robert Steuckers. Das Eingangsreferat hielt der damalige Präsident des rechten Theoriezirkels »Groupement de recherche et d’études pour la civilisation européenne« (GRECE), Jacques Marlaud, zum Thema »Unsere heidnische Konzeption der Identität«. Die zentrale Bedeutung des Topos »Identität« ist geblieben, sie hat sich sogar verstärkt. An die eigene Strömung der »Identitären« war damals noch gar nicht zu denken. Aber ansonsten hat sich vieles, sehr vieles verändert. Das von Marlaud hervorgehobene Heidentum spielt heute in der »Neuen« Rechten kaum noch eine Rolle. Stattdessen wird intensiv ein Bündnis mit fundamentalistischen Katholiken angestrebt, es schreibt sogar ein russisch-orthodoxer Priester für die neurechten »Éléments«. Von der früheren anti-christlichen Ausrichtung ist kaum noch etwas zu spüren. Schauen wir auf das Kolloquium der »Neuen Rechten« im Paris des Jahres 2024, dann werden die Unterschiede schnell offenkundig. War das Publikum 1989 noch weitgehend männlich und mittleren Alters, so hat es sich inzwischen deutlich verjüngt und ist weiblicher geworden. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt der neue Veranstalter, das »Institut Iliade«, das den bedeutungslos gewordenen GRECE abgelöst hat. Dessen Kurse haben dafür gesorgt, dass die zunehmende Vergreisung des GRECE umgedreht werden konnte. Das hat sich auch bei den Referierenden niedergeschlagen. Etliche von ihnen haben die Schulungen des »Institut Iliade« durchlaufen und sind inzwischen selbst zu Kadern geworden. Der in früheren Jahren unverzichtbare Alain de Benoist tauchte gar nicht mehr auf der Redeliste auf, andere Kader haben sich wegen ideologischer Differenzen getrennt.

Das aktuelle Personal an der Spitze, der Historiker Joseph Conrad, der Afrikanist Bernard Lugan und Jean-Yves Le Gallou, ein ehemaliger Europaabgeordneter des »Front National« (heute »Rassemblement National«), steht nicht für ideologische Innovation. Im Gegenteil: Sie verstehen sich eher als Dienstleister für die Parteien der extremen Rechten, sowohl den »Rassemblement National« als auch für »Reconquête« von Éric Zemmour, dessen Zentralkomitee Le Gallou angehört. Ein Weg, den auch Benedikt Kaiser, der einzige Deutsche unter den Rednern gegangen ist. Auch er will nicht mehr lediglich »metapolitisch« wirken, sondern inzwischen als Mitarbeiter des AfD-Bundestagsabgeordneten Jürgen Pohl aktiv eingreifen. Geblieben ist der Liberalismus als Hauptgegner, geblieben die Europaorientierung.
Diese Entwicklungen aufzuzeigen, Veränderungen wie Konstanten, ist unverzichtbar. Es ist genau die Aufgabe, die sich der rechte rand des Jahres 1989 gestellt hat, es ist weiterhin die, die sich das heutige Antifamagazin stellt. Es ist die Aufgabe, die eine Zeitschrift erfüllen kann. Es ist die Aufgabe, die sie erfüllen muss, wenn sie Antifaschisten wie Primo Levi und Angelo Tasca treu bleiben will.